Unveränderte Aufzeichnung von 1995 aus den Unterlagen der Leppersdorferin Frau Reingard Erler (1926 - 2009)
Im Gedenken an das Kriegsende erschienen vielerorts mehr oder weniger detaillierte Erlebnisberichte und Erinnerungen. Nach 50 Jahren sind die meisten Zeitzeugen verstorben. Damit ging leider vieles, nirgendwo Festgehaltenes, auch von lange tabuisiertem Wissen, verloren.
Zu den wenigen Quellen, die Ereignisse von 1945 in Radeberg und Umgebung authentisch schildern, gehört die jetzt zum ersten Male veröffentlichte Niederschrift in der Chronik der Buchdruckereibesitzer und Herausgeber der „Radeberger Zeitung“ Willy und Waldemar Hordler. Der 468 Textseiten umfassende Band gelangte aus dem Nachlass von Herrn Waldemar Hordler in den sechziger Jahren in das Heimatmuseum Radeberg. Diese Chronik enthält für die Jahre 1839 bis zum 31. März 1945 in Regestform die wichtigsten Lokalnachrichten der örtlichen Presse. Den Abschluss bildet eine eigenhändige Niederschrift, die hier als Zeitdokument ungekürzt und ohne Veränderung wiedergegeben wird. Verfasser ist vermutlich Willy Hordler, da der Bruder Waldemar in jener Zeit an der Front war. Nötige Einfügungen sind in Klammern gesetzt. Auf eine Kommentierung wurde an dieser Stelle verzichtet. Eine einzige Korrektur ist jedoch unerlässlich. Die unten erwähnten „polnischen Banden“ waren reguläre Truppen im Verband der 1. Ukrainischen Front. Die 2. Polnische Armee war am 22. April für einige Tage (bis zum 25. April) weit in Richtung Dresden vorgedrungen, u.a. bereits bis an den Stadtrand von Radeberg.
Immer näher rückt die Front; die Russen haben Breslau umzingelt und bedrohen Görlitz bzw. Scharen von Flüchtlingen aus Schlesien kommen durch R(adeberg). Erschütternde Bilder! Auch aus dem Warthegau kommen Flüchtlinge; viele bleiben in Radeberg und den umliegenden Dörfern.
13./14./15. Februar: Drei schwere Terrorangriffe der Anglo-Amerikaner auf Dresden. Dresden wurde zum Trümmerhaufen. Obdachlose Flüchtlinge, die aller Habe beraubt, der Gluthölle entronnen, suchen Notunterkunft.
Volkssturm errichtet in und um Radeberg, in der Heide usw. Panzersperren und Panzergräben.
Panikstimmung! Viele Radeberger bringen Weib und Kind in Sicherheit, vergraben Wertsachen.
Wachsende Schwierigkeiten der Zeitungsherstellung. Verspäteter Eingang des Nachrichtenmaterials, da die Post tagelang versagt. Vom 22.-28. April konnte keine Zeitung erscheinen, da die meisten Setzer und Drucker zum Volkssturm eingezogen waren. Dann war es wieder möglich, ein notdürftiges Blatt herauszugeben; der Fernschreiber hörte auf, da in der Berlin Kämpfe stattfanden und das Material musste nachts durch einen Funk-Dienst Görlitz beschafft werden. Bis 7. Mai zweiseitige Zeitung.
22. April: Früh 3 Uhr ertönte Feindalarm, ein lang gezogener Heulton der Luftschutzsirene. Der Volkssturm (ohne Waffen!) trat an und wurde einige Tage lang in der Brauerei kaserniert und auch uniformiert. Die Panzersperren an den Aushängen der Stadt wurden besetzt.
In Leppersdorf, Kleinröhrsdorf, Großröhrsdorf, Lichtenberg, Wachau und an der Stadtrandsiedlung Radeberg fanden Kämpfe statt. Radeberg kam unter Beschuss, wodurch einige Häuser beschädigt wurden, so das Grundstück von Bäckermeister Scheinig, Mühlstraße 23, von Stadtbaurat Johannes Zopf, Adolf-Hitler-Straße (Badstraße) 15 und das Hintergebäude des Fabrikgebäudes Köckritz & Co., Pulsnitzer Straße 41 sowie das Hintergebäude des Stadtkellers Markt 1. Im Laufe des Nachmittags fiel eine Sprenggranate in die Stolpener Straße bei Kuschel (Nr. 6); abends wurde das Grundstück Adolf-Hitler-Straße (Badstraße) 14 getroffen.
Schwerer hatten oben erwähnte Dörfer durch eingedrungene polnische Banden zu leiden, da sie drei Tage lang besetzt wurden. Vergewaltigungen, Plünderungen waren an der Tagesordnung. Vieh wurde weggeführt. In Leppersdorf allein zählte man 42 Tote; auch Selbstmorde waren häufig.
In einem Gefecht bei Heinrichsthal fand Meister der Schutzpolizei Alfred Körner im Alter von 47 Jahren den Heldentod. An der Stadtrandsiedlung wurde Franz Kupijai von Banden erschossen. Von der deutschen Kommandantur wurde (am) 24.04.1945 der Bauer Kunath und Bürgermeister Heinze in Wachau erschossen, weil sie bei Annäherung feindlicher Truppen die weiße Fahne gezeigt hatten.
Nach drei Tagen zog sich der Feind zurück. Oberleutnant der Schutzpolizei Unger wurde nach seiner Rückkehr verhaftet und vom Standgericht Dresden wegen nicht genügender Verteidigung bei Heinrichsthal, die er zu leisten hatte, zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde auf ein Gnadengesuch hin zum Zuchthaus gemildert.
Am 22. April geriet das Radeberger Sanitätsauto in Feindeshand. Das Rotkreuzmitglied Winter und (der) Bahnhofwirtschaftspächter kamen in Gefangenschaft und wurden nach dem Lazarett Pulsnitz gebracht, wo sie nach fünftägiger Haft am 27. April befreit wurden. Das Sanitätsauto blieb in Feindeshand.
Am 29. April wurden ein Mann und eine Frau nach Spruch des Standgerichtes in der Hauptstraße vor Grundstück Nr. 61 an einer Linde aufgehängt, weil die Frau zu einem Ausländer Beziehungen gepflegt hatte. Ihr Mann veranlasste die grausige Vergeltung.
Dresden soll, obgleich fast ganz Deutschland schon in Feindeshand, bis zum letzten verteidigt werden. Radeberg liegt im Festungsbereich.
6./7. Mai: Anhaltendes schweres Trommelfeuer westlich Dresden.
7. Mai: Nachmittags russische Tiefflieger über Radeberg. Kurz vor 8 Uhr abends plötzlich ein kurzer schwerer Luftangriff. Brände in der Kokosmattenfabrik, Bombentrichter am Stadtbad und an der Oststraße in Feld und Gärten, Kegelbahn des „Amtshofes“ (an der Wasserstraße) zerstört, (auf der) Mühlstraße, Schillerstraße und Umgebung, Dresdner Straße viele Häuser beschädigt. Bahnhof in Schutt und Trümmern. Bei Eschebach und Sachsenglas Sprengschäden. Das Haus von Karl Tschackert (Eigenheimweg 2) schwer beschädigt; Tschackert und sein Söhnchen tot.
Um Mitternacht zogen deutsche flüchtende Soldaten durch Radeberg. Dresden wurde kampflos übergeben, auch hier (in Radeberg) wurde kein Widerstand geleistet, der Volkssturm löste sich auf. Viele Radeberger Familien flüchteten ins Ungewisse. Der Ortsgruppenleiter der NSDAP und andere Parteiführer verschwanden. Gegen 1 Uhr rückten die ersten Russen am Stadtrande ein.
Am Morgen des 8. Mai durchziehen Teile der Roten Armee Radeberg, zunächst in Ruhe und Ordnung. Nach anfänglichem Zögern wagte sich die Bevölkerung auf die Straße, um einzukaufen. Russische und polnische Arbeiter, z.T. bewaffnet, durchstreifen die Stadt und es kommt zu manchen Ausschreitungen. Vergewaltigungen, Plünderungen, Läden werden zertrümmert und völlig ausgeraubt. Das dauert einige Wochen, und die Bevölkerung hat viel zu leiden.
Ein russischer Stadtkommandant mit seinem Stab zieht ins Rathaus ein. Zum Bürgermeister von Radeberg wird Wächtler, zu seinem Stellvertreter Wehner ernannt; später übernimmt Fabian das Wirtschaftsamt, Paul Brückner die Regelung der Ernährungsfragen. Am 27. Juni wird Lukas, zuletzt bei der Girokasse, Bürgermeister. Wächtler übernimmt das Parteisekretariat. Ein Sicherheitsdienst aus Radeberger Einwohnern bemüht sich um Ordnung, bis wieder eine Polizei in Kraft tritt.
Die Radeberger Zeitung kann seit dem 8. Mai nicht mehr erscheinen. Die Einwohner mussten sämtliche Radios abliefern, auf den Straßen wurden Lautsprecher angebracht, die Musik und Nachrichten verbreiten, aber eine Zeitung nicht ersetzen können. Post und Eisenbahn funktionieren nicht, da alle Brücken durch Deutsche gesprengt worden sind. – Von Herrn Waldemar Hordler, der zuletzt als Hauptmann in Glaucha war, fehlt ebenso wie von Schriftleiter (der Radeberger Zeitung) Zenker und vielen anderen jede Nachricht.
Damit endet die Chronik. Die weiteren Seiten des Buches bleiben unbeschrieben.