Entnommen der Zeitung „Wir“, erschienen am 25. August 1967
Aus den privaten Dokumenten von Frau Reingard Erler (1926 - 2009)
Anlässlich des Tages der Opfer des Faschismus informierte der „Dresdner Kreisexpress“ seine Leser über das Schicksal eines sowjetischen Mädchens im Jahr 1945 in Ottendorf-Okrilla. In den letzten Tagen vor dem restlosen Zusammenbruch des faschistischen Terrorregimes wird Lydia Baibikowa ermordet. Wenig ist über Lydia bekannt. Bürger des Kreises Dresden-Land wissen nur: Sie war mit neun anderen Mädchen aus der Gegend von Kursk nach Deutschland gebracht worden. In der Fabrik Thielemann in Leppersdorf mussten sie arbeiten. ist etwas über Lydias Verwandte und das Schicksal der anderen sowjetischen Mädchen bekannt? Mit dieser Frage wandte sich der „Dresdner Kreisexpress“ an sowjetische Stellen.
Sie helfen gern
Generalkonsul Wassiljew (Leipzig), das sowjetische Außenministerium und der Belgorodsker Gebietssowjet tun, was sie können. Dann traf das Ergebnis der Nachforschungen in Dresden ein. Wie lautet es?
- Die Eltern Lydia Baibikowas leben in Belgorod.
- Den neun Leidensgefährtinnen Lydias gelang es, in die sowjetische Heimat zurückzukehren.
- Sie erinnern sich: In Leppersdorf gab es gute Deutsche. An Dora denken sie auch und an die Friseuse.
Nach diesen Informationen und nach neuen Nachforschungen in Leppersdorf schrieb Gottfried Tittmann diesen Bericht.
Nach Deutschland verschleppt
Der Krieg trifft die Familie Baibikow in Belgorod ebenso überraschend wie Millionen andere Familien. Georgi Jakowlewitsch Baibikow arbeitet bei der Eisenbahn. Am ersten
und zweiten Kriegstag sind die Züge voll von Urlaubern, die zu ihren Einheiten in die Grenzgarnisonen fahren.
Bald aber fährt nicht mehr alles in Richtung Westen. Der Luftraum wird von deutschen Fliegern beherrscht. Eisenbahnanlagen, Straßen und alles, was sich bewegt, nehmen sie unter Beschuss. Auf den Straßen sterben in Richtung Osten marschierende Soldaten, ebenso wie aus den okkupierten Gebieten flüchtende Zivilisten. Immer mehr nähern sich die Faschisten Belgorod. Es beginn die Evakuierung der Zivilbevölkerung.
Familie Baibikow wird durch die Wirren des Krieges auseinander gerissen. Lydia, die 15jährige Tochter, ist plötzlich schwer erkrankt. Kurz darauf überrollt die Front den Ort. Das XXIX. Armeekorps unter dem Kommandierenden General der Infanterie von Obstfelder stationiert sich in Belgorod. Der faschistische Stadtkommandant führt ein Regime des Grauens und Schreckens ein.
Lydia Baibikowa wird wieder gesund. Aber Anastasia Pawlowna Baibikowa soll bald allein in der Stadt wohnen. Deutsche Soldaten dringen in ihre Wohnung und nehmen die 15jährige Tochter mit zur Kommandantur. Da helfen keine Tränen der verzweifelten Mutter, das zu verhindern. Anastasia Pawlowna soll Lydia nie wieder sehen. Neun junge Mädchen aus dem Belgorodsker Gebiet werden für mehrere Jahre Lydias Gefährtinnen.
Mit Tausenden anderen Mädchen und Frauen aus den besetzten sowjetischen Gebieten werden die Zehn in Güterwagen gepfercht und nach Deutschland verschleppt. Der Firma Thielemann in Leppersdorf werden sie zur Arbeit zugeteilt.
Auf Ziegebalgs Punktkarte
Im Jahr 1942. Die Produktionsstätten der Lederfabrik Thielemann sind zu eng geworden. Rüstungsauflagen machen eine Erweiterung notwendig. Am geeignetsten dazu ist der Gasthof Tille.
Zu den Dienstverpflichteten gehört Frau Dora Ziegenbalg. Nach einer entsprechenden Belehrung über den Umgang mit „Ostarbeiterinnen“ arbeitet sie im kleinen Saal mit den zehn Mädchen aus Belgorod zusammen. Geduckt verrichten diese ihre Zwangsarbeit. Beißt Dora Ziegenbalg in einen Apfel, richten sich zehn Augenpaare auf sie.
Die sowjetischen Mädchen, die in der Firma Thielemann in Leppersdorf zur Zwangsarbeit eingesetzt waren, aufgenommen im Gebiet von Leppersdorf. Stehend von links nach rechts: Maria Drusjewa; Golaiko; Lydia Jeskowa; Jekaterina Germosowa; Vera Gordijenko; Sinaida Barkalowa; Maria Bondarewa. Kniend: Lydia Baibikowa. Sitzend: Jewdokja Jefremowa; Maria Fadejewa. |
Am nächsten Tag legt sich Dora zum Frühstück einen Apfel auf den Tisch. Zehn andere wechseln heimlich unter dem Tisch ihre Besitzer. Freudige Augenpaare danken der deutschen Frau. Es bleibt nicht bei den Äpfeln.
Dora Ziegenbalg merkt, dass die Mädchen keine Strümpfe haben. Sie kauft auf ihre Punktkarte welche, prüft in ihrem Kleiderschrank, welche Kleider, Blusen und Röcke sie entbehren kann, packt alles ein und schiebt es heimlich den Mädchen zu.
Vera bedankt sich für alle bei ihr. Dora Ziegenbalg spürt, dass die Mädchen Vertrauen zu ihr gewinnen. Sie merkt aber auch, dass es noch mehr Helfer im Dorf gibt. Von Monat zu Monat verändert sich das Dasein der Mädchen. Außer Vera – sie trägt noch ihre langen Zöpfe – haben sich all anderen Dauerwellen legen lassen. Irgendwo haben sie sich Kleiderstoff erworben. Ein anderer hilft ihnen, Kleider zu nähen.
Die Betriebsleitung hat vom Verhältnis Dora Ziegenbalgs zu den Mädchen Wind bekommen. Jemand muss sie beobachtet haben. Sie wird über Nacht in eine andere Abteilung innerhalb des Gasthofes „versetzt“. Das hindert die mutige Frau aber nicht, mit den Mädchen zu sprechen. Mit der Zeit haben die übrigen neun sich deutsche Sprachkenntnisse angeeignet. Nach Wochen wird die Dienstverpflichtete wieder im kleinen Saal gebraucht. Dora Ziegenbalg freut sich, erneut mit ihren russischen Freundinnen zusammenzuarbeiten. Eines Tages macht sie Vera den Vorschlag, sie doch einmal mit ihren Freundinnen in der Wohnung zu besuchen.
Vera stutzt. Sie wird erst einmal mit den anderen darüber sprechen. Dora muss verstehen, dass das für die Mädchen lebensgefährlich ist. Dora ist sich mit ihrem Mann über den Vorschlag einig. Sie haben alles einkalkuliert. Tage später teilt Vera mit, dass sie am Abend, nach Einbruch der Dunkelheit, kommen. Sie werden nicht die Straße, sondern einen Feldweg benutzen.
Nachricht aus der Heimat
Es ist soweit. Kurt Ziegenbalg passt auf. Dora empfängt sie und schleust alle in ihre Wohnung. Dora und Kurt wollten den Mädchen eine besondere Freude bereiten. In Zimmerlautstärke tönt aus dem Radio russische Volksmusik. Die Stimmung der Mädchen ist gehoben. Groß wird die Freude, als aus dem Lautsprecher die Stimme Moskaus ertönt.
Der Besuch wird still. Nur der Nachrichten-
sprecher hat das Wort. Ziegenbalgs verstehen nichts, freuen sich aber, dass sie den Mädchen helfen können. Nach den Nachrichten wieder Musik. Zwischendurch sendet Moskau Frontberichte.
Bei diesem einen Besuch bleibt es nicht. Besonders oft kamen die Mädchen im Juli/August 1943. In diesen Wochen tobt die Schlacht bei Kursk. Es geht um ihre Heimat, Belgorod. Am 5. Juli 1943 ist die Lage so: Von Belgorod aus wollen die Faschisten auf Kursk stoßen und die Woronesher Front in die Zange nehmen. Es soll die Revanche für Stalingrad werden. Aber die faschistische Streitmacht scheitert am Kampfgeist der Sowjetsoldaten. Die sowjetische Offensive beseitigte den „Kursker Bogen“ und wirft die Deutschen hunderte Kilometer zurück. Charkow, Belgorod, Lebedin, Senkow, Kromy, Orjol, Karatschan, Bolchow werden befreit.
Dora und Kurt Ziegenbalg sind sich im Klaren, dass sie mit dem Leben spielen. Neulich, als die Mädchen wieder still auf dem Sofa saßen, um die „Musik“ auch richtig zu hören, kam öfters der Mitbewohner des Hauses in Leppersdorf, Pulsnitzer Straße 10, in den Hausflur, ging um das Haus und blieb unter Ziegenbalgs Fenstern stehen. Aber ungesehen verschwanden die Mädchen wieder. Und es geht immer gut – bis 1945.
Mord in Ottendorf
Vor dem Ort Leppersdorf steht die Polnische Volksarmee. Viele im Dorf arbeitende Polen schlagen sich zu ihrer Armee durch und befreien Tage später das Dorf. Nach dem 8. Mai 1945 verabschieden sich neun Mädchen von ihrer Dora. Die 10., Lydia Baibikowa, hatte am 14. April Schluss gemacht und war aus Leppersdorf geflohen. Zuerst wollte sie nach Ottendorf-Okrilla zu ihrem Verlobten Juri Titarenko. In Ottendorf erfährt Lydia, dass Juri nicht mehr im Ort ist. Sie beschließt, allein nach Königsbrück zu gehen.
An der Panzersperre auf der Königsbrücker Straße in Ottendorf-Okrilla wird sie von einer Leppersdorferin, die zu dieser Zeit gerade zu Besuch in Ottendorf weilt, erkannt und dem Panzersperrenkommandant gemeldet. Der Panzersperrenkommandant kontrolliert ihre Ausweise, verhaftet sie und bringt sie zum Stab in den Gasthof „Zum Hirsch“. Dort wird sie zum Tode verurteilt. Auf dem Sportplatz fällt der tödliche Schuss.
„Goldene Herzen“ in Belgorod
Nach dem Kriege. Anastasia Pawlowna Baibikowa erfährt von einem der nach Belgorod zurückgekehrten Mädchen, dass ihre Tochter Lydia ums Leben kam. Auch Baibikow kehrt in seine Heimatstadt zurück, sieht die Trümmer seines zerstörten Hauses, hört vom Schicksal seiner Tochter.
Die Baibikows beginnen aufs Neue, ihr Haus aufzubauen. Das Haus ist fertig. Beide beschließen, das Mädchen Marusja Seda aufzunehmen, das im Krieg seine Eltern verloren hat. Jetzt erhält das Leben der beiden neuen Sinn, neue Freude. Sie haben nicht nur ein neues Haus, sondern auch ein neues Kind.
Jahre vergehen. Ein Brief kommt. Marusja hat einen Bruder. Lange hat er nach seiner Schwester gesucht. Die Baibikows nehmen auch Georgi auf. Er erzählt, dass außer ihm und Marusja nach dem Tod der Eltern noch der Bruder Wanja und das Schwesterchen Walja am Leben geblieben sind. Wanja wird in Perm ausfindig gemacht und Walja in einem der Kinderheime des Belgorodsker Gebietes. Laut und fröhlich wird es im Haus der Baibikows. Jetzt haben die Baibikows schon vier Enkel. Alle werden mit Liebe, Sorge und Mühe von Anastasia Pawlowna und ihrem Mann umhegt. „Goldene Herzen“ werden die beiden von Nachbarn, Bekannten und Verwandten genannt. So berichtet die „Belgorodsker Prawda“ im November 1960.